Hilfe für Menschen in versteckter Armut

Die Stadt Bern reagiert auf die steigende Anzahl von Menschen in Armut und startet ein Pilotprojekt. Mit der Überbrückungshilfe werden armutsbetroffene Menschen unterstützt, die keine Sozialhilfe beziehen. Durchgeführt wird das einjährige Projekt von der Fachstelle Sozialarbeit der katholischen Kirche.

Die Realität spricht eine deutliche Sprache: Unerwartet viele der armutsbetroffenen Menschen beziehen trotz einer prekären Notlage keine Sozialhilfe, weil sie den Kontakt zu Behörden vermeiden. Denn die schweizerische Gesetzgebung spricht ebenfalls eine deutliche Sprache: Wenn Menschen aus dem Ausland Sozialhilfe beziehen, droht ihnen der Entzug der Aufenthaltsbewilligung.

Unbürokratische Hilfe

«Dies führt bei Betroffenen zu grossen Ängsten», weiss Mathias Arbogast als Leiter der Fachstelle Sozialarbeit der katholischen Kirche (FASA), die das Projekt durchführt. «Sie nehmen Armutsrisiken in Kauf, nur um Behördenkontakte zu vermeiden.» Gegen diese versteckte Armut will die Stadt Bern vorgehen.

Franziska Teuscher als zuständige Gemeinderätin attestiert der Schweiz ein sehr gutes Sozialsystem, allerdings auch eines mit Lücken: «Als Gemeinwesen müssen wir dafür sorgen, unmittelbare Not zu beheben. Wir können existenzielle Bedrohungen unserer Bevölkerung nicht dulden.» Sie sieht die Überbrückungshilfe als unbürokratischen und niederschwelligen Beitrag zur Linderung der Not und als Massnahme gegen die Lücken im Netz der Sozialhilfe.

Die Überbrückungshilfe unterstützt bedürftige Menschen in ihrem Bedarf für Essen, Wohnen, Kleidung und Gesundheit.

Vertrauensbasis wichtiger als eine im Vordergrund stehende Stadt Bern

Bei Schweizerinnen und Schweizern zielt die Überbrückungshilfe darauf, sie zu einem Antrag auf Sozialhilfe zu motivieren und an die Sozialwerke anzubinden. «Die Unterstützung ist jeweils mit einer Beratung verbunden», erwähnt Claudia Hänzi einen wichtigen Teil des Projektes. Sie leitet das Sozialamt der Stadt Bern und nennt nebst dem Widerstand armutsbetroffener Menschen vor Behördenkontakten weitere Gründe, weshalb die Stadt Bern nicht als Hauptakteurin innerhalb des Projektes auftritt.

«Der Vollzug durch die FASA und weiteren Partnerorganisationen schafft eine wichtige Vertrauensbasis. Sie agieren unabhängig von staatlichen Strukturen. Auch das Informationsmaterial und der Internet-Auftritt sind so gestaltet, dass die Stadt Bern nur im Hintergrund erscheint.»

Individuelle Betroffenheit ist Forschungsthema

Damit sollen, so Claudia Hänzi, die Hürden abgebaut werden, die oft auch zu Schamgefühlen und dem Empfinden einer Entwertung führen. «Wie gross dieses Phänomen tatsächlich ist und welche Menschen den Kontakt meiden, wissen wir aber zu wenig genau.» Dies herauszufinden, ist auch ein Ziel des Pilotprojektes, das von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) überprüft wird.

Die Leiterin des Sozialamtes vermutet, dass in der Stadt Bern etwa 1500 Menschen leben, die nicht beim Sozialamt registriert sind, obschon sie einen Anspruch darauf hätten. Gefragt nach einem Blick in den Stadtteil Bern-West antwortet Claudia Hänzi, dass der Anteil einkommensschwacher Haushalte dort höher liege als in der Innenstadt, jedoch ein engmaschiges Hilfsnetz verschiedener ansässiger Organisationen bestehe. «Die Stellen sind etabliert und bei der Bevölkerung gut bekannt.»

Bernische Bevölkerung ist oft solidarisch

Dazu braucht es Information und Aufklärung, was für Mathias Arbogast eine zentrale Aufgabe der Sozialarbeit ist: «Die katholische Kirche koordiniert ein grosses Netz an Freiwilligen. Viele von ihnen engagieren sich in kirchlichen Projekten zugunsten von Menschen am Rande der Gesellschaft.» Er ist zuversichtlich, dass die Überbrückungshilfe in der Öffentlichkeit positiv wahrgenommen wird:

«Unsere Erfahrungen zeigen, dass in der bernischen Bevölkerung eine grosse Solidarität für armutsbetroffene Menschen vorhanden ist.» Die Überbrückungshilfe wird punktuell und situativ geleistet und ist nach einem Maximalbezug von 5000 Franken ausgeschöpft.

Programm läuft vorerst bis Ende 2023

Die Pilotphase läuft bis Ende 2023, die Erfahrungen und Auswertungen werden darüber entscheiden, ob das Projekt danach weitergeführt wird. Und damit die Erkenntnis, ob für Armutsbetroffene die Realität eines selbständigen, unabhängigen Lebens etwas näher gerückt ist.

Mindestens ein Beitrag zur Linderung der Not wird es sein, solange die Lücken im sozialen Netz bestehen, ist Franziska Teuscher überzeugt: «Ein menschenwürdiges Dasein ist ein Menschenrecht.»

Einfach erklärt

Die Stadt Bern startet ein Projekt, um Menschen in Armut zu helfen. Oft beziehen diese Menschen keine Sozialhilfe, obwohl es ihnen schlecht geht. In der Stadt Bern sind es ungefähr 1500 Personen. Die Hilfe durch das Projekt soll unkompliziert und leicht zugänglich sein.

Das Projekt dauert ein Jahr und wird von der Fachstelle Sozialarbeit der katholischen Kirche durchgeführt.

Martin Jost

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