Sicheres Aufwachsen oder ständige Angst?

Mitte Dezember sagte das Parlament Ja zu einer Motion, die verlangt, das Recht auf gewaltfreie Erziehung im Zivilgesetzbuch zu verankern. Denn nach wie vor erfahren in der Schweiz jedes Jahr weit über hunderttausend Kinder regelmässig Schläge, Demütigungen oder Liebesentzug. Die grosse Mehrheit der Eltern will ihre Kinder ohne Gewalt aufwachsen lassen – und sucht mitunter Hilfe, wenn sie es mal nicht schafft.

Schütteln, Schreien, Schlagen: Noch immer erleben Kinder in der Schweiz Gewalt von ihren nächsten Bezugspersonen. Eine Studie der Universität Freiburg kommt zum Schluss, dass im Durchschnitt ein Kind pro Schulklasse regelmässiger elterlicher Gewalt ausgesetzt ist.

Eine viel grössere Zahl, nämlich jedes zweite Kind, erfährt ab und zu Übergriffe seiner Mutter oder seines Vaters. Die Dunkelziffer ist vermutlich um einiges höher, sowohl bei den Familien, bei denen Gewaltanwendung zur Erziehung dazu gehört, wie auch bei den gelegentlichen Ausrastern.

Gewalt in der Erziehung darf nicht sein

Gewalt in der Erziehung ist in der Schweiz im Strafgesetzbuch verboten. Mitte Dezember überwiesen National- und Ständerat eine Motion, die zusätzlich das Recht auf gewaltfreie Erziehung im Zivilgesetzbuch verankern will. Initiiert hat den die Ueberstorfer Nationalrätin Christine Bulliard-Marbach (die Mitte).

Sie erhofft sich vom neuen Artikel im ZGB hauptsächlich eine Signalwirkung, wie sie nach der erfolgreichen Abstimmung in der Tagesschau erläuterte. Man habe in mehreren europäischen Ländern, darunter auch Nachbarländern, gesehen, dass nach einer ähnlichen Gesetzesänderung die Rate der Züchtigungen zurückgegangen sei.

«Man muss den Eltern aufzeigen, dass Gewalt in der Erziehung nicht möglich sein darf.» Zudem halte die Schweiz ohne einen solchen Gesetzesartikel die UNO-Kinderrechtskonvention nicht ein.

Gewalt durch Überforderung

Dass Mütter und Väter an ihre Grenzen kommen, ist normal. «Wenn Eltern zu grob reagiert haben, geschieht dies oft aus Überforderung», weiss Daniela Hänni aus vielen Beratungsgesprächen. Sie ist Mütter- und Väterberaterin des Kantons Bern und empfängt regelmässig Eltern im Familienhaus an der Frankenstrasse 1 in Bümpliz.

Sie erzählt, dass sich viele der Ratsuchenden bewusst mit der Erziehung auseinandersetzen. «Dass Gewalterfahrung für die Entwicklung von Kindern nicht gut ist, scheint heute breit anerkannt zu sein.» Somit begegnen ihr kaum Fälle, in denen wie früher mit einem Gürtel geprügelt wird. Viel häufiger kommen grobes Anpacken, Festhalten, bewusstes Angstmachen oder verbales «klein machen» vor.

Kinder geben sich die Schuld

«Wenn ein Kind in ständiger Angst leben muss, entwickelt es weniger Selbstvertrauen», beschreibt sie eine der Folgen eines Elternhauses mit regelmässigen Ausrastern. Das kann sich auch auf die Schulleistungen oder das soziale Verhalten auswirken.

«Sie schlafen zum Beispiel weniger gut, spielen immer wie mit angezogener Handbremse und sind dadurch in ihrer Entwicklung beeinträchtigt.» Denn Kinder suchen den Grund für Übergriffe immer bei sich. Viele Heranwachsende mit Gewalterfahrung werden später selbst zu Täterinnen und Tätern.

Was tun?

Erziehungsberechtigte, die ihre Kleinen aus Überzeugung schlagen, demütigen oder einsperren, suchen selten Beratungsstellen auf. Weitaus häufiger jedoch öffnen sich Ratsuchende, die eine Erziehung auf Augenhöhe anstreben und die Bindung zu ihren Kindern in den Vordergrund stellen.

Hänni rät Eltern, die von Überforderungssituationen erzählen, bereits vorbeugend aktiv zu werden. Etwa genug Zeit einplanen, sich Erholungsinseln schaffen oder Hilfe in Anspruch nehmen. Zudem helfe ein Perspektivenwechsel. «Kinder wollen ihre Eltern nicht einfach ärgern. Oft steckt ein Bedürfnis dahinter, das sie nicht anders ausdrücken können», erklärt sie.

Gerade Kleinkinder werden von ihren Emotionen oft übermannt – da helfe es nicht, sie wie «kleine erwachsene Personen» zu behandeln. Kommt es doch zur Gewaltanwendung, kann eine Entschuldigung seitens der Eltern viel bewirken – vorausgesetzt, die Mutter oder der Vater gibt nicht dem Kind die Schuld für den Wutausbruch.

Manchmal ist der Grat zwischen Strenge und Gewalt schmal. «Wenn das Kind Angst bekommt, ist es nicht gut», fasst es die Beraterin zusammen. Hingegen geben festgelegte Leitplanken einem Kind Sicherheit. Ziel soll sein, dass es der ganzen Familie wohl ist.

Einfach erklärt

Viele Eltern schreien ihre Kinder an oder schlagen sie. Gewalt in der Erziehung ist in der Schweiz aber verboten. Die meisten Eltern rasten aus, ohne es zu wollen. Eine Beratung kann helfen.

Salome Guida

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